
Am 20. Oktober 2013 verkündete die britische Regierung, dass sie einen Vertrag mit einem vom französischen Staatskonzern EDF geführten Konsortium über den Bau eines Reaktors mit zwei Blöcken am Standort Hinkley Point geschlossen hätte. Die Reaktionen auf diese Nachricht lösten in Deutschlands Kommentarspalten überwiegend Kopfschütteln aus. Selbst die konservative FAZ kommentierte: "Wenn eine Form der Stromerzeugung nach so langer Zeit noch immer staatliche Hilfe braucht, ist sie ein wirtschaftlicher Irrweg. Die Kernkraft ist nicht nur eine riskante, sondern auch eine teure Form des Klimaschutzes." Analysten von Liberum Capital aus der nicht für atomkritische Position bekannten Londoner City waren "flabbergasted" und nannten die Entscheidung "economically insane".
Die Konditionen des Deals sind in der Tat erstaunlich:
- Ein über 35 Jahre garantierter Abnahmepreis ("strike price") für den Strom in Höhe von knapp 11ct/kWh, der auch noch an die Inflation der Verbraucherpreise angepasst wird. Dieser Preis wird auf knapp 10.5 ct/kWh gesenkt, wenn ein zweiter Reaktor in Sizewell gebaut wird.
- Staatliche Bürgschaften für 65% der Baukosten, die mit 19 Milliarden Euro benannt werden. Diese Bürgschaften verringern die Kapitalkosten des Großprojekts erheblich und ermöglichen so einen niedrigeren "strike price".
- Eine Vielzahl von weiteren Bestimmungen, darunter eine Absicherung der Investor/innen gegen eine Verschärfung der Haftungsbestimmungen für Atomreaktoren.
Rainer Baake, Direktor des Think Tanks Agora Energiewende und ehemaliger Umwelt-Staatssekretär, und sein Team, haben diese Konditionen einem Vergleich unterzogen. Die Vergütung für deutschen Ökostrom liegt demnach 50 bis 100 Prozent niedriger als die britische Förderung für Atomstrom! Das, so findet Baake, sei "wirklich verrückt".
Immerhin ist es noch nicht sicher, ob der Reaktor tatsächlich gebaut wird. Eine wichtige Hürde stellt die Prüfung der EU-Kommission dar. Sie muss feststellen, ob die Bestimmungen über die Zulässigkeit von Staatsbeihilfen verletzt wurden. Die britische Regierung hat bisher sehr stark auf eine entsprechende Änderung der EU-Richtlinien gedrängt. Die EU-Kommission rückte jedoch nur wenige Tage vor dem britischen Vertragsabschluss von entsprechenden Plänen ab. Das Timing der Verkündigung der britischen Entscheidung mag auch damit zusammenhängen, dass man die Hoffnung auf eine Änderung der EU-Richtlinien aufgegeben hatte.
Atomkritische Stimmen geben daher die Hoffnung nicht auf, dass der Deal noch platzt: Erst wenn die Investoren wesentliche große Bauteile des Reaktors verbindlich bestellen, sei die Entscheidung unwiderruflich. Diese Entscheidung der Investoren wird im kommenden Sommer erwartet, nach Abschluss der Prüfung durch die EU-Kommission.
Das Comeback der Atomenergie
Wie konnte es zu dieser für Außenstehende so irrational wirkenden Politik kommen? Wer sich länger mit der britischen Energie- und Klimapolitik beschäftigt, für den kommt diese Entscheidung weit weniger überraschend. Der Atomlobby ist es in Großbritannien gelungen, einen pronuklearen "Lock In" der politischen Klasse zu erzeugen, der sich als erstaunlich faktenresistent erweist.
Nachdem die britische Atomindustrie von den 50er bis Mitte der 90er Jahre eine Serie von Unfällen und finanziellen Katastrophen produziert hatte, hätten wenige auf ein Comeback gewettet. Doch die britische Politik hat sich selbst im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends in eine energie- und klimapolitische Sackgasse manövriert, aus der diese "verrückte" Entscheidung nun herausführen soll.
Diese Sackgasse hat drei Seiten: (1) Starke, verbindliche Klimaziele auf der einen Seite in Form eines weltweit vorbildlichen Klimagesetzes, das ein "weiter so" mit fossilen Energien blockierte; (2) eine frühzeitige Festlegung auf Atomenergie unter dem Eindruck falscher Versprechungen der Atomlobby, und (3) eine ineffektive Politik bei Erneuerbaren und Energieeffizienz. Sie ist das Ergebnis einer Mischung aus dominanter Marktideologie, lokalem Widerstand gegen Windräder („Beeinträchtigung des Landschaftsbilds“) und den Interessen der fossilen und nuklearen Konzerne.
Der Beginn des Comebacks der Atomenergie in Großbritannien lässt sich auf das Jahr 2004 datieren. Angesichts der wachsenden Gefahren für das Weltklima fordert James Lovelock, der weltweit bekannte Autor der "Gaia-Hypothese“, eine Neubewertung der Atomkraft. 2005 folgt ihm der britische Chefberater für Klimapolitik Sir David King. Gegen erhebliche Widerstände in seiner eigenen Partei äußert Tony Blair 2006 seine Unterstützung für den Neubau von Atomkraftwerken aus klimapolitischen Gründen, eine Position, die 2007 auch sein Nachfolger Gordon Brown übernimmt. Die tief gespaltene öffentliche Meinung schwenkt unter dem Eindruck der Versprechen billiger und klimafreundlicher Stromgewinnung langsam um auf eine zögerliche Unterstützung der pro-nuklearen Position. 2008/9 kauft der tief im Atomgeschäft steckende französische Staatskonzern EDF den britischen Stromversorger British Energy und damit die vorhandenen Atomkraftwerke.
Unter den drei größeren Parteien - die britischen Grünen spielen aufgrund des Mehrheitswahlrechts keine große Rolle - vertraten die Liberaldemokraten im britischen Parteiensystem lange Zeit eine eindeutig antinukleare Position, mit der sie auch 2010 in den Wahlkampf zogen. Nach der Wahl gingen sie eine Koalition mit den Konservativen ein, bei der sie diese Position revidierten und dem Neubau von Atomkraftwerken zustimmten. Ihre atomkritischen Anhänger trösteten sie mit einer Bestimmung im Koalitionsvertrag, dass es keine Subventionen für Atomkraftwerke geben werde. Damit, so hofften viele, würde sich das Thema von selbst erledigen.
Doch dieser faule Kompromiss sollte sich rächen. Die Liberaldemokraten übernahmen das entscheidende Ministerium für Energie und Klimawandel (DECC) unter Führung von Parteivize Chris Huhne. Als "Wendehals" vertrat er die neue Position mit umso größerer Entschlossenheit.
Vollmundige Argumente
Die Atomlobby hatte nun die Politik dort, wo sie sie brauchte. Keine der großen Parteien vertrat mehr eine atomkritische Position, alle hatten sich auf Atomkraft festgelegt, und zwar mit einem starken moralischen Argument: der expliziten Berufung auf den Klimaschutz.
Als zweites Argument für die Atomkraft wurde eine große Zahl von Arbeitsplätzen in die Debatte geworfen, die über den Neubau in Großbritannien geschaffen würden. Das eher linksliberale Institute for Public Policy Research IPPR errechnete im Auftrag von EDF, dass ein Neubau von 10 Reaktoren 16.000-21.000 neue Jobs schaffen würde und dem Land Zugang zu einem großen internationalen Markt eröffnen würde.
Die politische Festlegung aller Parteien erwies sich als sehr stabil. Selbst die Atomkatastrophe von Fukushima konnte diesen Allparteienkonsens nicht aufbrechen. Zuviel hatten gerade die Mitte-Links-Parteien, Labour und Liberaldemokraten, ihren eigenen eher atomkritischen Anhängern zugemutet, als dass sie diese Gelegenheit zu einer Kurskorrektur wahrnehmen konnten.
Die Ablehnung von Subventionen war zwar noch ein Hindernis. Doch der Begriff der "Subvention" erwies sich als sehr interpretationsfähig. Über mehrere Jahre wurde auch diese Bastion der britischen Atomkritiker sturmreif geschossen. Nun steht nur noch die EU-Kommission als letzte Hoffnung. Der wichtigste Schritt war die Energiemarktreform, die eine feste Vergütung für Atomstrom über viele Jahre nach dem Vorbild der Einspeisetarife für Erneuerbare Energien ermöglichte. Die Höhe der Vergütung sollte mit den verschiedenen Konsortien, die neue Atomkraftwerke bauen wollten, verhandelt werden.
Doch von ursprünglich mehren Konsortien blieb nach dem Rückzug der deutschen Stromkonzerne RWE und E.ON nur noch EDF mit konkreten Plänen für Neubauten. Eine ideale Verhandlungssituation für den französischen Konzern: Die Politik hatte sich festgelegt auf neue Atomkraftwerke und stand unter Handlungsdruck: Alte Atom- und Kohlekraftwerke mussten in Kürze vom Netz, eine Investitionslücke drohte. EDF konnte also warten, bis die Politik den Deal soweit versüßt, um ihrem Anteilseigner, dem französischen Staat, und ihrem Konsortialpartner, der ebenfalls staatseigenen chinesischen Konzern China General Nuclear Power Group, alle Risiken abzunehmen.
Vom vollmundigen Versprechen zahlreicher Arbeitsplätze, das von den ehemals atomkritischen Liberaldemokraten wie den Konservativen zur Verteidigung ihrer "verrückten" Entscheidung erneut angeführt wird, werden nur wenige bleiben. Der britische Experte Tom Burke führt aus, das sich britische Firmen für den Neubau nur auf zwei von 90 Ingenieursaufträgen ernsthafte Chancen ausrechnen können. Der Rest geht nach Frankreich und China. Das eröffnet die Frage: warum subventioniert der britische Staat die chinesische kommunistische Partei?
Aber auch als Klimaschutzstrategie hat sich die Atomkraft inzwischen kräftig desavouiert. Die einflussreiche Financial Times stellt nach dem Bekanntwerden der enormen Kosten dieses Atomprojekts nun die Klimaschutzziele des Landes in Frage. Das widerlegt all die Stimmen aus der angelsächsischen Umwelt-Community wie James Lovelock, James Hansen, George Monbiot und andere, die unter berechtigtem Verweis auf die überragende Dringlichkeit des Klimaschutzes von Umweltschützern fordern, ihre Bedenken gegen Atomkraft aufzugeben.
Die Atomkraft erweist sich als teure Sackgasse, als ein Mythos, der Klimaschutz verspricht, aber nicht liefert. Als technologischer und wirtschaftlicher Irrweg steht der Mythos Atomkraft ambitioniertem Klimaschutz im Weg. Das ist die wichtigste Lektion der britischen Atompolitik.